still moving pictures

Gabriele Undine Meyer
14. – 23. Oktober 2005

Einführung: Matthias Müller, Medienkünstler, Bielefeld und Köln
Finissage: Vortrag zur Ausstellung: Dr. Björn Egging, Kunsthalle Bielefeld

“still moving pictures” ist der Titel der ersten Ausstellung von Gabriele Undine Meyer, die sich auf Arbeiten mit dem bewegten Bild konzentriert. Wir kennen bislang fast nur die Fotoarbeiten der Künstlerin – und insofern beschreitet Gabriele Undine Meyer mit diesen “moving pictures” neue Wege; sie greift in ihnen aber auch Themen auf, die sie bereits in früheren Werken bearbeitet hat: die Auseinandersetzung mit räumlichen Situationen etwa. Diese neuen Arbeiten bewegen sich zwischen Experimentalfilm und installativer Medienkunst; beide Gattungen stehen zwischen der Bildenden Kunst auf der einen, anderen Genres des bewegten Bildes auf der anderen Seite – und zwischen deren Orten Galerie/Museum und Kino. Es ist auch diese Heimatlosigkeit, die ihnen ihre Dynamik verleiht, ihren nomadischen Charakter: Orte müssen gesucht und besetzt werden, um überhaupt in Erscheinung treten zu können.

Im Gegensatz zum narrativen Film werden hier Räume nicht als stumme „backdrops” einer Geschichte funktionalisiert, sondern zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand erhoben, durchstreift, erforscht und als autonome Erfahrungs- und Reflexionssphären zum Sprechen gebracht. Als Spezies an keinem Ort fest verankert zu sein, hat gleichzeitig Einfluss auf die Wahrnehmung von räumlichen Verhältnissen.

Als im Kino wie auch immer noch im Ausstellungsbetrieb marginalisierte Gattungen haben Experimentalfilm und Medienkunst eine besondere Sensibilität für das Erfassen von Randzonen, von übersehenen Terrains entwickelt, die zu den wiederkehrenden Topoi ihrer Produktion zählen.
Das Interesse an Grenzbereichen, unspezifischen “non-places” und Schwellenräumen äußert sich in zahllosen Filmen und Videos, die sich Orten des “Dazwischen” und des Transits widmen.

In den ersten beiden Videos ihrer Ausstellung zeigt uns Gabriele Undine Meyer zwei solcher Orte in Manhattan: eine unspezifische Straßenecke und den zur Straße hin offen stehenden Kücheneingang eines chinesischen Restaurants. Gefilmt hat sie beide Arbeiten aus den Fenstern ihres Zimmers im “Carlton Arms Hotel” an der 25. Straße / Ecke 3rd Avenue, in dem sie im letzten Jahr über einige Wochen künstlerisch tätig war.

In diesem Hotel, dessen Zimmer von bildenden Künstlern gestaltet sind und dessen “Atmosphäre an das Bühnenbild eines Tennesse-Williams-Stücks, das Set eines Fellini-Films oder den Schauplatz eines Kerouac-Romans erinnert” (New York Daily News), hat Gabriele Undine Meyer einen Raum inszeniert, der die geisterhafte Präsenz seiner früheren Bewohner, reisender salesmen, beschwört. Das Hotelzimmer als zeitlich befristeter Lebens- und Arbeitsraum, die Straßenecke in “Advertising”, die Schwelle zwischen Innen und Außen in “Chinese Kitchen”: All dies sind Orte eines nur temporären Verweilens, Räume des Übergangs, der Passage, Orte zwischen Orten. In besonderer Weise trifft dies auch auf das Fenster zu, aus dem der Blick der Künstlerin auf die Schauplätze zweier ihrer Videos gefallen ist. Auch wenn das Fenster in den ersten beiden Videos dieser Ausstellung nicht als Bildmotiv sichtbar ist, ist es doch konstitutiv für sie. Ein Fenster durchbricht die Hermetik des durch die Wände konturierten Baukörpers zum Außen hin; es stellt die Verbindung des Innen mit dem Außen her, erlaubt aber auch das Eindringen des Außen in das Innere des Hauses, – ist also Abgrenzung und Öffnung des Innenraums zugleich. Mit dieser Mittlerfunktion markiert das Fenster den Ort des Zusammentreffens von Privat und Öffentlich, Vertraut und Unvertraut, Ich und Welt. Sein Rahmen kadriert und fokussiert unseren Blick. Das Verhältnis von Fenster zu Innen- und Außenraum unterhält eine auffällige Verbindung zu den apparativen Bedingungen von Film und Fotografie: Film- und Fotokamera umschließen einen Raum, in den Licht einfällt, und zwar dosiert – wie durch ein Fenster.
In romanischen Sprachen bezeichnet das Wort „camera“ sowohl das Zimmer als auch die Kamera.
Das sogenannnte „Bildfenster“ der Film- und Videokamera ermöglicht dem Zuschauer 24 mal (bzw. 25 mal) in der Sekunde einen Blick in die Welt. Im Englischen steht „frame“ sowohl für den einzelnen Filmkader, wie auch (als „window frame“) für den Fensterrahmen. Der französische Filmtheoretiker André Bazin spricht von der (Kino-) Leinwand als einem “Fenster zur Welt”.

So wie das Fenster als Symbol des Belauschens und Observierens mit dem grundsätzlich voyeuristischen Charakter der technischen Aufzeichungsapparate korrespondiert, ist es medien- und kunstgeschichtlich eines der traditionsreichsten und am weitesten verbreiteten Topoi.

Die Vorstellung vom menschlichen Auge als „Fenster” findet sich in Literatur, Bildender Kunst, Fotografie, auch in Film und Video. Der “Blick aus dem Fenster” gilt als älteste erhaltene Fotografie; um 1826 richtet Joseph Nicéphore Niépce eine Kamera aus seinem Arbeitszimmer und macht über acht Stunden eine Aufnahme der gegenüberliegenden Häuser. Die langen Belichtungszeiten in den Anfängen der Fotografie verlangen einen vom Wetter unabhängigen, geschützten Raum für die Kamera, gleichzeitig so viel Licht wie möglich: Das Fenster als Schwelle zwischen geschütztem Innen und hellem Außen ist der perfekte Ort hierfür; es ist aber auch ein sicherer Beobachtungsposten, ein diskreter Hochsitz bei der Bilderjagd. In seinem Text zu Reiner Leists New Yorker Fenster-Fotografien schreibt Reinhard Matz: “Der Topos ‘Blick aus dem Fenster’ sagt: Ich, Fotograf, lasse mich auf die Welt ein, aber ich bleibe bei mir. Ich betrachte die Welt – aber aus sicherer Warte.” Diese gleichzeitig räumliche Position und geistige Haltung kennzeichnet eine Reihe von medienkünstlerischen Arbeiten: Aus sicherer Warte, aus dem Fenster von seinem Studio im 4. Stock auf der Columbus Avenue, filmt der Kanadier David Rimmer 1970 über mehrere Monate die sozialen Rituale der Passanten vor “Tom’s Real Italian Pizza”-Takeaway vis-a- vis: “Ich wollte einen Film über New York machen, aber ich hatte keine Ahnung wie. Ich saß am Fenster und mir fiel auf, was so alles beim Pizza Parlour gegenüber passierte. Ich traute mich nicht, mit meiner Kamera durch New York zu gehen, aber jetzt begriff ich, dass ich bleiben konnte, wo ich war.” (Rimmer) Aus sicherer Warte, durch das Fenster des eigenen Wohnzimmers, filmt der Russe Victor Kossakowsky 2001 über ein Jahr lang, was er auf seiner Straße in Sankt Petersburg sieht: “Normalerweise beachten wir die Dinge nicht, die direkt vor uns sind. Mein Film ist in gewisser Hinsicht ein Beispiel dafür, was sich direkt vor deinen Augen entwickeln kann, wenn du dir die Mühe machst, hinzusehen.” (Kossakowsky)

Aus sicherer Warte, dem Fenster seines Hotelzimmers, fotografiert der englische Filmemacher John Smith im selben Jahr über 4000 Bilder, die nichts als das Alltagsgeschehen an einer Straßenecke in Wien dokumentieren und von Smith im Stil der Phasenfotografie Muybridges animiert werden. Aus sicherer Warte, nämlich aus den beiden Fenstern ihres New Yorker Hotel- Zimmers, beobachtet Gabriele Undine Meyer in “Advertising” und “Chinese Kitchen” das Geschehen auf der Straße gegenüber.

Das beobachtete Geschehen ist in beiden Videos alltäglich, unspektakulär. Das Handzettel verteilende Mädchen an der Straßenecke und das auf dem Bürgersteig pausierende Küchenpersonal des chinesischen Restaurants würde von vielen für als kaum der Aufzeichnung wert befunden werden. Die dokumentarische Qualität, die die von den Gefilmten unbemerkte “candid camera” garantiert, wird von der Künstlerin nur durch minimale, dabei äußerst effektive formale Eingriffe transformiert.
“Chinese Kitchen”: Die stark verlangsamten Bilder wirken wie Stills, doch sind es Tableaux Vivants, lebende, “still moving pictures”.

In diesem gedehnten Tempo gehen die Gesten nahtlos ineinander über, sie verlieren alles Momenthafte, Impulsive, erinnern eher an den ruhigen Fluss der Motorik, wie wir ihn in asiatischen Entspannungs- und Meditationstechniken beobachten können, Yoga und Tai-Chi etwa.

Bill Viola gilt mit seiner radikalen Entschleunigung zeitlicher Abläufe als Entdecker der Langsamkeit in der Videokunst – und damit als ein Vorläufer zahlreicher junger Medienkünstler, die die extreme Zeitlupe als Reaktion auf eine bis an den Rand der Raserei, des Kollaps beschleunigte Medienwelt wählen.

Bei Gabriele Undine Meyer korrespondieren die Zeitlupe und die kraftlose, verblichen wirkene Farbigkeit mit dem, was die Künstlerin zeigt: einen nahezu eingefrorenen Moment des Dazwischen an einem Ort des Dazwischen, einen Moment der Erschöpfung, der Pause, der Regeneration. Die Handlung: Die Arbeiter sitzen und stehen auf dem Bordstein und in der neonhellen Küche, führen eine kurze Unterhaltung, werfen ein Blick in den Nachthimmel, zünden eine Zigarette an.

Diese Mikroerzählungen sind wie einzelne Akte durch Auf- und Abblenden voneinander getrennt, die – besonders auch wegen der kulissenhaft wirkenden Szenerie – an das Öffnen und Schließen eines Theatervorhangs erinnern. Szenerie und Bildaufbau bleiben gleich, die Akteure – mal einer, mal vier – wechseln.

Das Stück, dem wir beiwohnen, widmet sich dem Verstreichen von Zeit. Ein einfacher Effekt in “Advertising” macht die bewegten Bildpartien transparent, lässt die vorbeieilenden Passanten körperlos, fast geisterhaft erscheinen. Um so präsenter das stoisch ausharrende, trotz massiver Körperfülle und – gelinde gesagt: – auffallender Kleidung von allen scheinbar übersehene Mädchen, ein großes Kind, das wie ausgesetzt wirkt auf unvertrautem Terrain, unsicher und unbeholfen.

Und: in der ihr anvertrauten Rolle eine groteske Fehlbesetzung. Die Werbewirkung, die doch von ihr ausgehen soll, dürfte ihr Ziel bei weitem verfehlen; Marketing-Coachs und Motivationstrainer würde ihre Haltung vermutlich in eine tiefe Sinnkrise stürzen…. “she’s a total failure”. Von den eiligen Passanten übersehen, evoziert ihr Bild beim Betrachter des Videos, das sie in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt, eine ambivalente Haltung, schwankend zwischen der schamhaft eingestandenen Belustigung eines ”guiltly pleasure” und Empathie.

Die völlige Ineffizienz dieser drastisch entfremdeten Arbeit kreiert ein surreal anmutendes Moment des Innehaltens, des Somnambulen, Traumverlorenen fast – in einer geschäftigen und mit sich selbst beschäftigten Metropole, die sich stolz besingt als eine “Stadt, die niemals schläft”. Die merkwürdige Gleichzeitigkeit von mentaler Absence und körperlicher Präsenz des Mädchens, betont noch durch die Körperlosigkeit der eiligen Passanten, und ausgestellt durch den konzentrierten, lange ausgehaltenen Blick auf sie, lässt uns Betrachter ins Spekulieren geraten.

In seiner Geschichte “Des Vetters Eckfenster” von 1822, auf dem Sterbebett diktiert, beschreibt E.T.A. Hoffmann den Besuch des Erzählers bei seinem an den Rollstuhl gefesselten Cousin, dem – unfähig, seine Wohnung zu verlassen – der Platz am Fenster hoch über einem belebten Marktplatz zur Proszeniumsloge geworden ist: “Aber dies Fenster ist mein Trost, hier ist mir das bunte Leben aufs neue aufgegangen, und ich fühle mich befreundet mit seinem niemals rastenden Treiben. Komm, Vetter, schau hinaus!«

Der Blick auf das menschliche Treiben gewährt gleichzeitig stille Teilhabe am öffentlichen Leben, wie die Anonymität der vorbeihastenden Gestalten Imagination und Fabulierlust stimulieren: Zu jedem Passanten wird eine Geschichte erfunden. Seinem jungen Verwandten, der den Kranken besucht, möchte dieser “die Prinzipien der Kunst zu schauen” beibringen. Hoffmanns Ich-Erzähler beschreibt diese Art der Wahrnehmung als “einen kleinen Schwindel, der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahenden Traums gleicht.” In einen ähnlichen Schwindel versetzt Gabriele Undine Meyer die Betrachter ihrer Videos. Was wir über ihre Figuren wissen, ist wenig; um so geschärfter unsere Sinne, die Rückschlüsse aus den angebotenen Indizien zu ziehen versuchen, der Kleidung, Mimik und Gestik, der Art der Interaktion mit anderen. Und doch: Was immer wir über die Figuren zu wissen scheinen, alles bleibt im Bereich von Ahnung und Vermutung, im Vagen und Spekulativen. Sich unbeobachtet wähnend, werden sie zu Objekten unseres voyeuristischen Vergnügens wie auch unserer unerfüllten Sehnsucht nach Geschichten. Die Ereignisse, die uns vorgeführt werden, sind zu alltäglich, zu flüchtig und fragmentarisch, um unsere Blicklust voll zu entfachen, geschweige denn, sie zu stillen, der körnige “night shot” von “Chinese Kitchen” zu unscharf, um die Dinge detailgenau zeigen zu können – und so komplettieren wir das Gesehene in der Imagination. Die Künstlerin schürt und bremst unsere Erwartungen, bietet gleichzeitig Information an und verweigert sie. Es ist genau diese Gleichzeitigkeit von Angebot, Verzögerung und Verweigerung, die uns aus der passiven Beobachter-Rolle reißt – und beispielsweise das Ende des Videos, den wortlosen Blickwechsel zwischen der Protagonistin und einer Passantin, besonders aufmerksam verfolgen lässt. “Jedes Ding spricht zweimal – in seiner reinen Gegenwart und in der Unendlichkeit seiner virtuellen Verbindungen”: Diese Bemerkung Jacques Rancières lässt sich beim Blick auf diese Arbeiten Gabriele Undine Meyers von jedem Betrachter überprüfen.

Ohne das Gesehene durch eine “Schattenwelt der Bedeutungen” zu ersetzen, wie es Susan Sontag in “Against Interpretation” formulierte, lesen wir doch ohne Unterlass neue Bedeutungen in die Bilder hinein, erlauben wir unseren Rezeptoren, kleinste Gesten zu vergrößern, unseren Synapsen, aus minimalen Details das Entlegenste zu assoziieren: Erinnert das gleichförmige, repetetive Schwenken der Handzettel in “Advertising” nicht auch von Ferne an die Kontemplation, die vom Drehen der tibetanischen Gebetsmühlen ausgeht, in deren Korpus sich Papierrollen mit Mantras befinden, deren Wirkung durch die gleichförmige Bewegung freigesetzt werden soll? Ist es der aufmerksame Blick von Gabriele Undine Meyer, der von ihr durch Kadrage, Selektion und Postproduktion kontrollierte Zufall, der diese Verschränkung des Gesehenen und des Imaginierten leistet? Oder arbeitet in mir als Betrachter eine ruhelose Sinnproduktion, die das in Meyers Bildern dargestellte Nutzlose und Ineffiziente, die Absence und die Pause, in etwas Produktives, in Bedeutung verwandeln will? Fällt Gabriele Undine Meyers Blick in den ersten Arbeiten von oben auf den Mikrokosmos ihrer temporären New Yorker Nachbarschaft, um im Alltäglichen das Außergewöhnliche zu finden, geht der Blick in “Red Madonna” herauf zu den Heiligen.

Bei längerer Betrachtung aber wächst der Eindruck, auch die Madonnenbilder seien in der Aufsicht gefilmt. Denn eine Flüssigkeit umspült ihre Gesichter, pulsiert quecksilbrig um dessen Konturen, erinnert an Substanzen aus dem Körper- oder Erdinneren: an Blut, an Magma. Sie animiert das Statische des Tafelbilds, lässt das “Still” der Ikone zu einem “moving picture” werden. Wir wohnen einem alchimistischen Akt bei, in dessen Verlauf die individuellen Physiognomien von verschiedenen Lucas-Cranach-Madonnen zu einer einzigen zu werden scheinen. Gabriele Undine Meyer badet diese Ikonen in Milch, jener Substanz, die wie keine andere auf Mutterschaft verweist. Durch die rote Einfärbung verwandelt sie Milch in Blut – und den Darstellungen von Müttern (Müttern Gottes) scheint dadurch selbst etwas Foetales anzuhaften: die Gesichtskonturen verschwimmen für Momente, werden weich und amorph. In seinem Film “Marnie” blendet Alfred Hitchcock in verschiedenen Einstellungen, die die Perspektive seiner hochneurotischen Titelfigur übernehmen, in ein sattes Technicolor-Rot, und diese traumatischen Visionen führen im Kontext seiner Geschichte immer wieder zu einer Assoziation mit dem Mutterkörper. Doch zurück zu Meyers Bildmaterial: Waren Madonnen im Mittelalter noch als weltferne, entrückte himmlische Königinnen dargestellt, gelten Cranachs Darstellungen der Mutter Gottes als liebende Mutter als charakteristisch für die beginnende Neuzeit. Wir blicken auf zu diesen Heiligen, während ihre Blicke – sanft, milde – zu uns geneigt sind. Das Himmlische und das Irdische, das Sakrale und das Profane beginnen sich anzunähern, die Hierarchie von Oben und Unten sich aufzulösen. Das Oben und das Unten, die Auf- und die Untersicht, verschränken sich erneut, jetzt ganz deutlich, in der Bildüberlagerung von “The Skyscraper” im letzten Raum. Hier steigen wir erst hinab, um dann den Blick nach oben zu wenden – und aus der Enge und Dunkelheit des Kellers in ein weites, blasses Himmelblau zu schauen. Lange, viel zu lange, hat die Filmwissenschaft die Brüder Lumière und George Mélies als Begründer zweier einander entgegengesetzter Filmschulen verbucht: In einer formelhaften Vereinfachung sah man hier nur die Objektivität des nüchternen dokumentarischen Blicks, dort allein die überbordende Phantasmagorie, die Tricks und Effekte einer enthemmten mise-en-scène – hier die Chronisten, dort den Magier.
Eine Arbeit wie “The Skycraper” generiert eine Symbiose aus diesen vermeintlich antagonistischen Positionen: Das dokumentarische Ausgangsmaterial zeigt – ganz dem Interesse der Lumières an der Arbeitswelt verpflichtet – einen vietnamesischen Arbeiter, der einen Straßenbelag erneuert, der aber durch die ebenso einfache wie magische Transformation einer Bildüberlagerung zu einem Renaissancemaler zu werden scheint, der eine Kuppel mit sich türmenden Wolken ausmalt – fast wie in einer Referenz an die kosmischen Phantasien von Mélies. Die harmonisch kreisenden Bewegungen der Figur – auch sie: verlangsamt – scheinen die Formationen der ziehenden Wolken wie in einem fremden Ritual zu beschwören, sie einmal vorwegzunehmen, sie gleichsam zu choreographieren, ihre sich verändernden Formen dann sorgsam nachzuzeichnen. Erneut ist es ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Stilmittel, mit dem Gabriele Undine Meyer die bloße Abbildfunktion des elektronischen Bildes transzendiert. Sie unterläuft die Opazität der Bilder, und damit auch deren behauptenden Charakter, indem sie den beiden sich überlagernden Motiven Transparenz verleiht – ein Eingriff, der so einfach und nachvollziehbar ist, dass auch er wie durchsichtig wirkt.

Die Bildmotive bleiben unabhängig voneinander dechiffrierbar – und sie generieren doch gleichzeitig ein neues, virtuelles Bild, eine Art Emblem für das eingangs beschriebene namenlose “Dazwischen”, die subtilen und sublimen Verschränkungen von Dokument und Fiktion, realistischem Abbild und idealisierender Ikone, nüchterner Profanität, Poesie und Pathos, Material und Idee, Körper und Seele.

Eine schwebende Balance scheint in den Videos von Gabriele Undine Meyer zwischen diesen dialektischen Begriffspaaren zu bestehen – ganz so, wie die Arbeiten zwischen dem Sichtbaren und dem nicht Sichtbaren oszillieren. Die Reise, auf die uns Gabriele Undine Meyer in dieser Ausstellung mitnimmt, führt vom Mikrokosmos ins Kosmische, vom Dokument begrenzten urbanen Alltags zum Sehnsuchtsbild des Grenzenlosen, aber zum komponierten und sorgsam kontrollierten Kino-Sehnsuchtsbild – das deshalb so gefühlvoll wie hochsynthetisch ist.

Matthias Müller